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tafelkuben

Die tafelkuben können als Variationen zur Untersuchung der Wirkung einer perspektivisch gezeichneten, elementaren geometrischen Figur, des Würfels, im scheinbar dreidimensionalen Raum verstanden werden.

Durch die vorherrschende Verwendung von Tafellack und Kreide und, daraus resultierend, die sich spontan einstellenden Assoziationen mit „Schultafel“ und „Geometrieunterricht“ muten die Arbeiten temporär (weil im Prinzip abwischbar) und experimentell (weil skizzenhaft) an. Durch eine spürbare Dissonanz, eine leichte Asymmetrie in der Komposition (der Verschiebung des optischen Mittelpunktes nach unten rechts), entsteht allerdings eine Spannung, die der scheinbaren Banalität der perspektivischen Würfeldarstellung entgegengesetzt wird.

Die Betrachtung der Arbeiten als Serie bestätigt und vertieft den experimentellen Eindruck und vermittelt Einblicke weniger in einen Entwicklungsprozess (die chronologische Abfolge der Entstehung ist für den Betrachter im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbar), sondern vielmehr in das tastende, bei aller Ernsthaftigkeit aber auch spielerisch anmutende Ausloten der Wirkung von Veränderungen bestimmter Parameter auf die Wahrnehmung. Variiert werden der Hintergrund (vorherrschend schwarzer oder grüner Tafellack, teilweise auch beige Acrylfarbe), die Flächen und Linien bzw. Kanten (Verwendung von Kreide, Ölkreide, Schraffuren, Rasterungen, Ritztechniken und Pigment). Zudem kommen Verwischungstechniken in verschiedenem Umfang zum Einsatz.

Anhand der Verwischungen lässt sich die Wirkung der Variationen exemplarisch recht gut verdeutlichen. Zum einen fallen Verwischungsspuren auf, die denen nicht unähnlich sind, die ein Schwamm beim Säubern einer Schultafel nach dem Trocknen hinterlässt. Diese Spuren besitzen ein eigenes ästhetisches Moment. Durch sie werden aber auch Eingriffe in das kompositorische Gleichgewicht vorgenommen (der optische Schwerpunkt der Arbeiten verlagert sich). Zum anderen verändert sich durch die Verwischungen der Kanten und Begrenzungsflächen deren Ausdruck und Präsenz und damit die Wahrnehmung der Kuben. Die Kanten und Flächen erscheinen in manchen Arbeiten wie von einer Art Nimbus oder Nebel umgeben, ein Effekt, der vereinzelt so weit reicht, dass die entsprechenden Kuben fast geisterhaft anmuten, sich also in ihrer physischen Präsenz zurücknehmen. Mitunter kommt es dabei zu einem interessanten Phänomen: die durch die perspektivische Darstellung dreidimensional erscheinende Form wird durch die Reduktion der physischen Präsenz nicht etwa in die zweidimensionale Welt zurückgeholt, sondern verschmilzt mit der optischen Tiefe des Tafellacks, um die Illusion der Dreidimensionalität nur noch zu verstärken. Wo die Verwischungen nur einzelne Kanten betreffen, die in manchen Zeichnungen zur Gänze ausgelöscht sind, fühlt sich der Betrachter veranlasst, die unvollständige Geometrie im Geiste zu vervollständigen, wodurch die Auseinandersetzung mit der scheinbaren Dreidimensionalität provoziert und weiter intensiviert wird.

Dr. Wilko Thiele (Universität Heidelberg), Karlsruhe 2011

 

vogel flieg - eine bildergeschichte

Das Werk vogel flieg – eine bildergeschichte ist das Ergebnis der künstlerischen Überarbeitung eines Fotobildbandes über die nationale Küstenstraße BR -101 in Brasilien, dem Geburtsland Marcia Raquel Székelys.

Der ursprüngliche, 160 Seiten umfassende Bildband im Format 30 x 28 x 3,5 cm mit Begleittexten in englischer und portugiesischer Sprache, wurde im Jahr 1978 in einer limitierten Auflage von 2000 durchnummerierten Exemplaren von Mercedes Benz in Brasilien herausgegeben. Der vorliegende Band trägt die Nummer 0961.

Im Rahmen der Überarbeitung wurden alle Seiten, mit Ausnahme der letzten 37, mit weißer Gouache übermalt, wobei der ursprüngliche Text und die in Farbe gehaltenen Fotos und Abbildungen durch das Weiß hindurch erahnbar bleiben. Durch die Weißung werden die zum Teil exotischen, nahezu paradiesisch anmutenden Motive, die beim Betrachter eine gewisse Sehnsucht bzw. ein Fernweh auszulösen vermögen, zugunsten einer neu entstehenden Klarheit entromantisiert. Dies ist die Grundvoraussetzung für eine emotionale Distanzierung, durch die eine Auseinandersetzung mit der Thematik und die sukzessive Reflexion überhaupt erst möglich werden.

Blättert man die Arbeit von vorne beginnend bis ans Ende durch, stößt man, nach den ersten weiß übermalten Seiten, auf ein mit Bleistift vorgezeichnetes und mit schwarzer Gouache deckend ausgefülltes Quadrat, das auf der rechten Hälfte der Doppelseite mittig positioniert ist. Das schwarze Quadrat wiederholt sich auf den folgenden Seiten, nimmt dabei aber immer mehr an Größe zu. Es entsteht ein Gefühl des sich Annäherns an dieses. Dieser Prozess wird nicht als abgeschlossen empfunden, denn bevor das Quadrat die rechte Hälfte der Doppelseite vollständig ausfüllt, also die nötige Tiefe erreicht werden kann, wird es durch kräftige vertikal verlaufende schwarze Linien abgelöst, zwischen denen Durchblicke auf die übermalten Seiten wieder möglich sind. Diese Linien werden auf den nächsten Seiten breiter und es entsteht erneut der Eindruck, sich räumlich zu nähern. Horizontale Linien gleicher Stärke kommen hinzu und bilden ein Raster, das den Blick auf die übermalten Seiten wieder verstellt. Die Dicke der Linien nimmt auf den folgenden Seiten ab. Gleichzeitig reduziert sich aber auch ihr Abstand zueinander, so dass das Raster immer dichter wird und der Eindruck entsteht, dass das betrachtete Motiv wieder in die Ferne rückt. Dies geht so weit, dass das Raster schließlich vom Auge nur noch in gewissem Umfang als solches wahrgenommen wird. Die von den Linien begrenzten kleinen weißen Quadrate rücken optisch in den Vordergrund. Die Erwartung, dass sich das Raster zu einer schwarzen Fläche verdichtet und die weißen Quadrate verschwinden, wird nicht erfüllt. Stattdessen stößt man beim Umblättern wieder auf eine geweißte Doppelseite. Hier sind auf der Fotografie unter dem Weiß Palmen zu erahnen. Im Zentrum der aufgeschlagenen Doppelseite findet sich außerdem ein kleines schwarzes Quadrat, das durch Invertierung aus einem der weißen Quadrate aus dem Raster der vorhergehenden Seite entstanden ist. Dieses zentrierte schwarze Quadrat nimmt auf den nachfolgenden Seiten immer weiter an Größe zu. Es stößt zunächst an den oberen Seitenrand, vergrößert sich aber dessen ungeachtet weiter, bis schließlich die ganze Doppelseite vom Schwarz eingenommen wird. Es folgen mehrere vollständig geschwärzte Seiten, wodurch der Eindruck entsteht, dass sich das Quadrat auch über den seitlichen Rand hinaus noch weiter ausdehnt. So wird ein vollständiges Eintauchen möglich, die Annäherung kann als vollzogen verstanden werden. Die nötige Tiefe ist erreicht, das Schwarz wird aufgelöst: beim Umblättern erscheint auf der nächsten Doppelseite erneut ein Raster, das diesmal aber aus dünnen Bleistiftlinien zusammengesetzt ist. Diese feineren Linien besitzen nicht mehr die visuelle Vehemenz und Dominanz wie am Anfang des Bildbandes. Sie vermitteln stattdessen eher ein Gefühl von Struktur und Orientierung. Das Raster lichtet sich schließlich auf der nachfolgenden Seite. Im Anschluss folgen wieder geweißte Blätter, bis ab Seite 122 bis zum Ende des Bandes keine Überarbeitungen mehr zu finden sind.

Dr. Wilko Thiele (Universität Heidelberg), Karlsruhe 2011